Mystik

Im Fluss der Worte und Gedanken

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Beim Schreiben kann ich mich verlieren. So wie ich mich im Gespräch mit Freunden am Feuer oder beim Tee und auch beim gemeinsamen Kochen regelmässig in den unterschiedlichen Themensträngen und Situationen verliere. Wir folgen gemeinsam in unseren Gesprächen diesem Gedanken, jenem Impuls oder einem Gefühl und landen an ganz anderen Stellen, als wir zu Anfang erwartet haben.

Im Gespräch weben wir einen gemeinsamen Teppich aus Gedanken und Gefühlen. Wir gehen miteinander in Beziehung. Wir zeigen uns. Wir tauschen uns aus. Wir lernen uns kennen. Wir lernen. voneinander und miteinander.

Schreiben ist für mich etwas, um die Zeit zwischen den Gesprächen und Begegnungen zu überbrücken. Ich versuche meine Gedanken und Gefühle in einem Text zu erfassen, um jenen, mit denen ich gemeinsam auf dieser Reise des Lernens, des Lebens bin, mit Worten mitzuteilen, was mich bewegt. Das ist schwierig. Zum einen droht beim Schreiben ständig die Gefahr, missverstanden zu werden. Zum anderen besteht Kommunikation nicht nur aus Worten. Es gehört so viel mehr dazu. 

In meinem Schreiben schwingt immer der Wunsch mit, dass auch der Faden meiner Worte, die Fäden der damit verknüpften Gedanken, an irgendeiner anderen Stelle weiterverwoben werden. Ich muss gar nicht wissen, wie und wo. Was nützt es mir zu wissen, was da gerade an einem anderen Platz auf der Welt mit meinen Impulsen geschieht? Sie dürfen sich weiterentwickeln, vielleicht müssen sie dies sogar. Vielleicht ist das Weiterentwickeln durch andere der eigentliche Sinn und Zweck davon, Gedanken in Worten festzuhalten. Denn ich habe ja mit meinen Gedanken, Gefühlen und Beobachtungen nur ein ganz kleines Puzzlestück der Wahrheit in meiner Hand. Wer weiss schon, wo genau dieses Puzzlestück hingehört, an welcher Stelle es hilft, ein Bild entstehen zu lassen, etwas sichtbar werden zu lassen, miteinander in Beziehung zu gehen. 

Mit dem Schreiben gebe ich meine Wahrnehmung der Wahrheit in die Welt. Wenn wir alle unsere Sichtweisen, unsere individuellen Wahrheiten miteinander verknüpfen, entsteht Weisheit. So stelle ich mir das auf jeden Fall vor. Weisheit ist etwas, was nicht alleine entsteht. Keine einzelne Person kann, ohne in Resonanz mit anderen Menschen und auch der Natur zu sein, Weisheit kreieren. Weisheit ist ein Produkt zwischenmenschlicher Resonanz. Sie entsteht im Austausch miteinander. Vielleicht ist es sogar so, dass Weisheit etwas ist, dass wir nur in Beziehung mit anderen aushandeln können. 

Wie gesagt, beim Schreiben kann ich mich verlieren. Und doch ist es kein wirkliches Verlieren. Ich biege ab, folge einem Nebenpfad. Ich erforsche einen neuen Weg, den ich noch nicht kenne und irgendwann kehre ich wieder zurück auf den Hauptweg. Unterwegs habe ich neue Sichtweisen, neuen Gedanken und neue Welten entdeckt.

So stelle ich mir gutes Lernen vor. So stelle ich mir das Entstehen von Weisheit vor. Weisheit, welche in der aktuellen Zeit so wichtig ist, um die Welt achtsam und verantwortungsvoll zu gestalten.

Lernen bedeutet für mich, immer wieder die Nebenwege, neue Wege zu erforschen, zu erfühlen, um dann doch immer wieder auf den Pfad zurückzukommen, welcher zum Ziel führt, das ich mir irgendwann einmal bewusst oder unbewusst für dieses Leben gesetzt habe. Ein Ziel, welches wir alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise anstreben: Ein gutes Leben zu führen. Nur was genau ist gutes Leben?

Viele Erwachsene haben das Gefühl, dass das Lernen beendet ist, wenn sie ihren Abschluss in der Tasche haben. Viele begeben sich in einen Job und denken, nun sind sie fertig mit Lernen. Dabei sollte unser Lernen doch lebenslang andauern und nicht mit dem Ende irgendeiner Schule aufhören.

Im Leben geht es ums Erfahren und ums Lernen. Ich selber habe verschiedene Ausbildungen absolviert und diverse Hochschulabschlüsse erworben. Ich habe Jobs angenommen und war der Meinung: Jetzt kann und weiss ich alles. Ich dachte, ich bin auf dem richtigen Weg, weiss ich aber, dass dies Nebenwege waren, die mir ermöglichten, Wissen und Erfahrung zu sammeln. Der eigentliche Unterricht geschieht im Alltag, das eigentliche Lernen ist niemals zu Ende.

In den sozialen Medien sind Memes, eine Kombination von Bild und Text, sehr verbreitet. Manche verwenden Sprüche, die ich schon früher in Ausbildungen gelernt und vor langer Zeit in Büchern gelesen habe. Auf einen dieser Sprüche bin ich gerade heute wieder gestossen. Woher er genau kommt und was die Quelle ist, weiss ich nicht. Mich berührt er, wann immer er mir über den Weg läuft. Dieser Spruch lautet so:

Bedeutendes spirituelles Wachstum findet nicht statt, wenn du am Meditieren oder auf deiner Yogamatte bist. Es findet statt, wenn du dich in der Mitte eines Konfliktes wiederfindest. Es findet in dem Moment statt, wo du wütend, ängstlich, traurig oder frustriert bist, in deine alten Muster fällst und das tust, was du schon immer getan hat. 
In dem Moment, in dem du realisierst, dass du nicht genau so handeln musst, wie du immer gehandelt hast, in dem Moment in dem dir auffällt, dass du auch anders handeln kannst, als du es bis jetzt getan hast, in dem Moment tritt das Wachstum ein.

Manche nennen diese Momente Erleuchtung. Ich beschreibe es für mich so, dass ich in diesem Moment einfach von einem Nebenpfad wieder zurück auf meinen Weg komme und durch mein Lernen, meine vermeintlichen Umwege, nun zusätzliche Handlungsweisen gelernt habe und anwenden kann.

Das Umfeld, in welches wir hineingeboren wurden, bestimmt die Vorstellung vom guten Leben. Für sehr viele, und dies vergessen wir immer wieder, ist das Ziel einfach nur etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben, den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, sicher zu sein. Andere treibt die Vorstellung vom Bewahren oder auch Erweitern des eigenen Besitzes an. Und für manche ist es der Kampf für Klima und Umwelt, für den es sich einzusetzen lohnt. Jede und jeder von uns hat ein kleines Puzzlestück der grossen Wahrheit. Jede und jeder von uns hat hierzu eine eigene Sichtweise.

Was wäre, wenn wir uns alle bewusst wären, dass niemand die Wahrheit alleine besitzt und wir uns auf die Suche und auf den Weg begeben müssen, um diese Wahrheiten zu einer Weisheit zusammenzufügen?

Vielleicht würden wir eine neue Form von Schule und Unterricht erfinden. Eine Form, in der wir unser tägliches Leben als die Lektionen ansehen können. Eine Form, in welcher wir gleichzeitig Lernende und Lehrende sind.

Das ist zu kompliziert, das wird nicht funktionieren, sagen mir viele. Es ist vielleicht komplex, aber nicht wirklich kompliziert. Die Herausforderung liegt darin, dass wir bewusst unsere Zeit damit verbringen, das Leben zu erfahren und zu begreifen, das Leben zu erspüren und zu erfassen. Wir müssen uns dazu entscheiden, miteinander zu lernen und zu forschen.

Wie eingangs gesagt, beim Schreiben verliere ich mich manchmal. 

Heute habe ich mich in meinen Gedanken zu einem Leben als Schule verloren. In dieser Schule gibt es Raum für Kunst und gemeinsames Musizieren, es gibt Fächer zur Alltagsgestaltung und gesunden Lebensführung. Es gibt all das, was wir gerade brauchen, um das im letzten Blogbeitrag erwähnte «neue Normal» zu gestalten und zu erfassen. Wie diese Fächer alle heissen? Keine Ahnung, denn ich kenne das neue Normal noch nicht und weiss deshalb auch nicht, welche Fächer es wirklich dazu braucht. Jeder und jede von uns kann ihr eigenes Wissen und die eigenen Gedanken und Gefühle und auch sein Nichtwissen in diese Form des Lernens einbringen.

Im Fach «gesunde Wirtschaft» würde ich wohl mit den Themenschwerpunkten «Heilsame Beziehungen zum Geld» und «Suffizienz als Lebenskunst» starten, einfach weil ich hier wahrscheinlich viel Wissen als Lehrerin einbringen kann, aber auch viel Nichtwissen als Schülerin habe. Ebenfalls spielt mit, dass mich diese beiden Themen einfach interessieren.

Mein Impuls ist, diesen doch etwas anderen Blogpost zu teilen und wer weiss, vielleicht gibt es ja noch andere, die gemeinsam an dieser Schule, die Elemente der Begegnung, mit Elementen der virtuellen Unterrichtswelt verknüpfen soll, mitzuweben.

Im nächsten Beitrag werde ich mich ausführlicher mit dem Thema «Suffizienz als Lebenskunst» beschäftigen und ich bin selber gespannt, wohin mich dieses Thema führen wird. Den Faden «Das Leben als Schule» lasse ich für den Moment los, und nehme ihn wieder auf, wenn er auf irgendeinem Wege zu mir zurückkommt.

Wie feiern wir in dieser Zeit das Wunder des Lebens und der Liebe?

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In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai wird in vielen Kulturen das Wunder des Lebens und der Liebe gefeiert. Beltane, der Sommeranfang im irischen Kalender, Walpurgisnacht oder auch Tanz in den Mai, diese Nacht hat unterschiedlichste Namen. Da sie in unserer Region in einen arbeitsfreien Tag, den 1. Mai, den Tag der Arbeit, übergeht, finden an vielen Orten lange und ausgiebige Feste statt. 

Nicht in diesem Jahr. Da Versammlungen mit über fünf Personen derzeit nicht erlaubt sind, brauchen wir eine andere Form, um die kommende Zeit zu begrüssen. Walpurgis, die am 30. April in unterschiedlichen Regionen geehrt wird, gilt übrigens als Schutzheilige gegen Pest, Husten und Tollwut. 

Mit der letzten Nacht im April beginnt in der Landwirtschaft die Zeit des Säens, des Wachsens, die Zeit der Fruchtbarkeit. Neben der Tradition des Feierns hat sich bis heute an vielen Orten das Aufstellen des Maibaums gehalten. 

Ob all die Geschichten um diese Rituale und Mythen wirklich wahr oder ob diese nur romantische Erfindungen sind, ist wiederum eine Frage, bei der ich gerne zugebe, dass ich es nicht weiss und auch nicht wissen muss. Es sind schöne Geschichten und Rituale, die ich gerne als Impulse aufnehme. Sie bestätigen und unterstreichen das, was wir in unseren Breitengraden in der Natur beobachten können. 

Hier am Walensee regnet es seit zwei Tagen und den Pflanzen kann man beim Wachsen zusehen. Die Bäume spriessen und das Leben beginnt wieder. Das ist es wohl, worauf uns  die Bräuche und Rituale hinweisen wollen, wenn wir vor lauter Geschäftigkeit vergessen, auf die Welt um uns herum zu achten. 

Vielleicht ist es ein Zufall, vielleicht auch nicht, dass nun nach dem Lockdown genau in dieser Zeit die Lockerungen beginnen, Wirtschaftsleben und eine Vielzahl von 1:1 Begegnungen werden wieder möglich. Auch hier: Ich muss nicht wissen, ob es Zufall ist oder nicht. Für mich ist wichtig, dass ich es wahrnehme, bemerke, was es mit mir macht und daraus meine Handlungen ableite. 

Mich ganz persönlich bestärkt es darin, mich auf die Aspekte der letzten Wochen zu fokussieren, die mir ein Lernen ermöglichten und die mir Hinweise darauf gaben, was verantwortungsvolles Leben und Wirtschaften bedeutet, was nun an weisem Handeln notwendig und was von mir erwartet wird.

Viele Unternehmen, die noch im Januar sehr zuversichtlich auf dieses Jahr geschaut und im sogenannten «business as usual» weiteres Wachstum geplant haben, wissen nun nicht, ob sie dieses Jahr finanziell überleben werden. Viele Menschen, die noch im Januar dachten, sie hätten einen sicheren Job, sind nun mit Arbeitslosigkeit konfrontiert.

Hinter all diesen Schicksalen stehen Menschen. Wenn ich mich in diese hineinversetze, werde ich traurig, denn ich weiss, dass ihnen eine Zeit bevorsteht, in der vieles nicht einfach sein wird. Ängste und Fragen werden aufkommen, zum Teil ganz praktischer Natur, wie zum Beispiel die Frage danach, wie die Miete, das Essen und die Ausbildung der Kinder weiter sichergestellt werden können. Hierfür braucht es Lösungen und hier sind wir alle gefragt. Es geht nicht nur um die Konsumenten, die Arbeitnehmenden, die Arbeitgebenden, die Lehrpersonen und Lernende, auch nicht um die Politiker, die wir gerne aufrufen, unsere Probleme zu lösen. Kein einzelnes dieser Segmente auch die Klimaschützer und die Multimillionäre nicht, auch keine der Gruppen, die ich noch gar nicht genannt habe, keine ist alleine verantwortlich oder kann das Problem alleine lösen.

Wir alle, jede und jeder von uns, sind auf gewisse Weise Teil des Problems und Teil der Lösung. Das Schicksal der Restaurantbesitzerin oder des Geschäftsinhabers, die mit guter Absicht bis vor kurzem Dinge verkauften, die wir eigentlich nicht brauchten und doch gerne besitzen wollten, geht uns alle etwas an. Auch für jene Menschen, deren Job davon abhing, dass wir reisen, shoppen und all die anderen Dinge tun, welche diese Wirtschaft am Laufen gehalten haben, tragen wir eine Mitverantwortung.

Wir haben diese aktuelle Gesellschaft auf dem Funktionieren einer Wachstumsmaschinerie aufgebaut, die nur weiterlaufen kann, wenn wir ständig mehr und mehr produzieren und konsumieren.

Mit Beginn der Fastenzeit Ende Februar wurde die Wachstumsmaschinerie gestoppt. Vollständig. Die scheinbar logische Konsequenz wäre nun, dass wir nach der Aufhebung des Lockdowns wieder damit weiter machen, worin wir im Februar unsanft unterbrochen worden sind. Doch dann würden wir all das, was nun sichtbar geworden ist, ignorieren. Wir würden ausser Acht lassen, dass ein Leben mit weniger Konsum genauso möglich ist und beiseiteschieben, dass es völlig ausreichend ist, wenn vom Flughafen Zürich nur 28 Flugzeuge in der Woche in die Luft steigen und unsere Umwelt belasten. Wir würden ignorieren, dass wir im Homeoffice viele Dinge genauso gut erledigen können, wie in einem Büro und darüber hinwegsehen, dass 9 von 10 Meetings, die wir in unserem Büros abgehalten haben, gar nicht stattfinden müssten oder zumindest in einer viel kürzeren und damit effizienteren Art und Weise durchgeführt werden könnten.

Werden wir unberücksichtigt lassen, dass wir ein Gesundheitssystem aufgebaut haben, welches nicht in der Lage war, ohne diese massiven Eingriffe in unser Leben, eine Notfallversorgung von kranken Menschen während einer Epidemie aufrecht zu erhalten? Werden wir vergessen, dass es Familien gibt, die gerade an den Rand ihrer Belastbarkeit kommen dadurch, dass sie gleichzeitig Homeschooling, ihren Job und auch noch die Paarbeziehung unter einen Hut bekommen müssen, und dies an manchen Stellen auf sehr kleinem Raum? Werden wir uns am Ende des Lockdowns noch daran erinnern, dass die Natur sich gerade schneller als erwartet erholt hat? Wir haben derzeit sauberere Flüsse und Meere, klarere Luft und weniger Lärmbelästigung als sonst um diese Jahreszeit. 

Werden wir ignorieren, dass wir unsere Eltern und Grosseltern in den Pflege- und Altersheimen nicht mehr besuchen konnten und ausblenden, wie sehr uns selber die Umarmungen, der Austausch mit anderen Menschen und das Leben ausserhalb unserer eigenen vier Wände gefehlt hat? Werden wir die Freiheit, die wir zur Gestaltung unserer Zeit zurückgewonnen haben, aufgeben und unseren Takt des Tages wieder durch die äusseren Zwänge bestimmen lassen?

Nun können wir das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben genau zu Beltane, zum Beginn der Sommerzeit, wieder langsam anlaufen lassen. Wir können das Leben, welches wir uns wünschen, wieder beginnen.

«You can never unlearn», damit ist gemeint: «Was wir wissen, können wir nicht mehr ignorieren». Dieser Spruch, der mich schon lange begleitet, macht mir Hoffnung, ruft mich dazu auf hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen.

In der Natur wird der Prozess des Wachstums begleitet vom ständigen Regulieren und Anpassen an die vorhandenen Ressourcen. Es müssen genügend Nährstoffe für alle Pflanzen und Tiere zur Verfügung stehen. Keine Art kann über die eigenen Bedürfnisse hinaus Ressourcen beanspruchen, sonst kommt es zu einem Ungleichgewicht.

Und was heisst das nun konkret für mich? Welche Schlüsse kann ich aus meiner Analyse ziehen?

Zunächst einmal lerne ich wieder genauer hinzuschauen, Zeugnis abzulegen und die Themen zu benennen. Das Problem zu erkennen ist der Anfang jeder Veränderung.

Anschliessend gilt es, in kleinen Schritten, wo immer es möglich ist, mit dem Handeln zu beginnen. Ich ganz persönlich habe durch meine Ausbildung, meine Erfahrung und meine Leidenschaft für verantwortungsvolle Geldflüsse die Möglichkeit, das Finanzsystem mitzugestalten. Damit ist meine wichtigste Aufgabe Geldflüsse zu ermöglichen, die all unsere Erfahrungen in dieser Krise berücksichtigen. Es ist meine Aufgabe mitzuwirken, dass eine Wirtschaft entsteht, die uns alle befähigt, ein Leben in Einklang mit der Natur und den vorhandenen Ressourcen zu führen. Ich habe noch keine Lösungen gefunden, aber ich weiss, dass es meine Aufgabe ist, an diesen Lösungen mitzuwirken,

Ganz konkret bedeutet dies für mich verantwortungsvoll einen Platz einzunehmen, an dem ich aktiv etwas zu einer Entwicklung in diese Richtung beitragen kann.

Ich denke, das ist gerade jetzt die Hauptaufgabe für jeden von uns: Sicherzustellen, dass wir an der Stelle wirken, an der wir all unsere Erfahrungen einbringen können. Mit «Stelle» meine ich nicht nur diejenige in der Arbeitswelt. Gerade jetzt in diesem Moment brauchen wir auch äusserst dringend ganz viel andere Dinge. Wir müssen die Gemeinschaft pflegen, menschliche Nähe geben, zuhören und einfach nur da sein. Wir brauchen Kunst, Musik und Schönheit, die Freude am Leben bringen. Dies sind Dinge, welche wir im Alltag häufig vergessen. Aber sie sind umso wichtiger, vielleicht noch wichtiger als die verantwortungsvollen Geldflüsse, denn Geld können wir nicht essen. Es ist immer nur Mittel zum Zweck. 

Damit komme ich zu einem zweiten Schritt, mit dem ich ganz persönlich zu einer positiven Entwicklung beitragen kann. Ich glaube fest daran, dass in einer verantwortungsvollen Gesellschaft die Grundbedürfnisse von jeder und jedem gedeckt sein müssen. Egal ob Künstler, Managerin, Lehrer, Ärztin oder Pfleger. Diese Basis für ein gutes Leben, die uns eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit verschafft, brauchen wir alle. Das bedingungslose Grundeinkommen ist noch nicht etabliert. Selbstversorgende Dörfer und Städte gibt es noch immer sehr wenige. Daran müssen wir in den kommenden Jahren arbeiten. All jene, die im Moment mehr haben, als sie zum Leben brauchen können in ihrem direkten Umfeld persönlich im Kleinen mit der Umsetzung starten und an Initiativen wie «Together now» und «Mein Grundeinkommen» teilnehmen. Wir können aber auch unserer Coiffeuse, dem Yogalehrer oder auch anderen Dienstleisterinnen und Dienstleistern Gutscheine für zukünftige Leistungen abkaufen, oder noch besser, ihnen mehr bezahlen als sonst. Wir können ein Projekt eines Musikers, eines Künstlers oder eines anderen Menschen, eine Monatsmiete übernehmen oder ein Jahresabo für Biogemüse schenken. Mit dem Jahresabo tun wir übrigens auch noch dem Bauern aus der Region etwas Gutes, der ja in den letzten Wochen keine Möglichkeiten hatte, seine Waren auf dem Markt zu verkaufen. 

Die wichtigste Frage an mein Gegenüber ist derzeit bei jeder Begegnung: «Was brauchst du?» Und das ist manchmal etwas ganz anderes, als wir denken. Es ist wichtig, dass wir alle immer wieder diese Frage an die Menschen, die unter dieser Krise noch mehr leiden als wir, stellen.

Ich selber unterstütze mein direktes Umfeld, da ich das Gefühl habe, hier kann ich am meisten bewirken. Es gibt unendlich viele Gelegenheiten etwas im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu bewegen.

Im Sinne des Buches von Rob Hobkins, dem Gründer der Transition Bewegung geht es darum jetzt zu starten. Einfach. Jetzt. Machen!

Was genau ist denn bitte nun normal?

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Ich sitze in Quinten auf der Terrasse und beobachte die Natur um mich herum. Heute Nacht hat es endlich geregnet und die Bäume und Sträucher nutzen dies, um in einen Wachstumsschub zu gehen. Die Feigen sind schon fast baumnussgross und an den Reben spriessen bereits die Blütenstände. 

„Das ist doch nicht normal!“ denke ich, „Das ist doch viel zu früh!“ und „Hoffentlich kommt nicht noch Frost!“ sind die weiteren Gedanken, die in mein Bewusstsein treten.

Als nächstes nimmt sich die Frage, die ich mir selber und vielen anderen gerade immer wieder stelle, laut und unübersehbar ihren Raum:

Was genau ist denn bitte nun normal?


Wie im letzten Blogbeitrag versprochen, verwebe ich die Fäden von Nichtwissen und Suffizienz in den kommenden Wochen in meine Beiträge. Manchmal werden diese dem Beitrag eine deutliche Färbung geben, manchmal werden sie als leise Musik im Hintergrund einen Klangteppich legen.

Ich habe in der NZZ vom 19. April 2020 ein Interview mit der Virologin Karin Mölling gelesen. Die Überschrift dieses Artikels lautet:

«Woher wissen denn allein Virologen, was richtig ist? Wir wissen vieles nicht. Leider»

Es entspannt mich sehr, das Nichtwissen überall um mich herum zu erleben. Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Nichtwissen und Entspannung – ist dies überhaupt miteinander vereinbar?

Wollen wir nicht eigentlich alles wissen? Wollen wir nicht immer alles verstehen und anschliessend auch noch vollständig kontrollieren? Wer denkt nicht selber oft: „Ich muss dies oder jenes unbedingt verstehen, sonst bin ich nicht handlungsfähig“. 

Die letzten Wochen haben mich gelehrt, wie entspannend das Nichtwissen ist, wenn es benannt ist und wenn ich es als eine Art Naturgesetz für mein Leben akzeptiere. Mir wird immer deutlicher, ich kann nur Wahrscheinlichkeiten abschätzen und Hypothesen aufstellen, für all das, was in meinem Leben und in der Welt in Zukunft passieren wird. Ein definitives Wissen habe ich nur über die Dinge, die in meiner Vergangenheit passiert sind. Aber auch hier gilt, dass wir unseren Erinnerungen nicht immer glauben schenken können. 

Ein wichtiger Aspekt dessen, was von nun an für mich normal sein wird, ist, dass ich in vielen Bereichen meines Lebens den Faktor Nichtwissen mitberücksichtigen muss, wenn ich die Zusammenhänge wirklich verstehen möchte.

Um beim Eingangsbeispiel des Feigenbaumes und des Weins zu bleiben, auch wenn es mir so vorkommt, in Wirklichheit und Wahrheit habe ich keine Ahnung, ob sie nun zu früh in Blatt und Blüte stehen. Sie haben einfach auf das reagiert, was die äusseren Bedingungen ihnen anbieten. Im Herbst wissen wir mehr.

Auch die Philosophie, welche hinter dem Begriff Suffizienz und hinter der Suffizienzpolitik steht, scheint mir sehr hilfreich zu sein, um eine ganz eigene „neue Normalität“ zu finden und zu erforschen. Die Fragen „Was ist genug?“ und „Was sind meine Grundbedürfnisse?“ sind dazu zwei wunderbare Leitplanken.

Übrigens, der im letzten Blogbeitrag erwähnte Satz auf den Anzeigen der SBB Tafeln hat inzwischen einen neuen Wortlaut. Neu lautet der Text nun: «Der Verkehr wurde auf ein Grundangebot reduziert“. Vorher lautete der Text: „Der Verkehr wird schrittweise auf ein Grundangebot reduziert “. In diesem Bereich kann jede und jeder in der Schweiz gerade prüfen, wie gut er und sie mit dem, was die SBB als Grundbedarf definiert hat, leben kann.

Für mich bedeutet diese aktuelle Anpassung auf meinen zwei wichtigsten Strecken ganz Unterschiedliches. Auf der einen Strecke wird mir ein 30-minütiger Spaziergang durch den Wald ermöglicht, denn die Haltestelle, welche ich bisher benutzt haben, gilt als touristische Erschliessung und wird derzeit nicht bedient.

Für die zweite Strecke muss ich nun unterwegs 30 Minuten Zwischenaufenthalt einkalkulieren, da der bisherige Anschlusszug nun sehr knapp, laut Fahrplan gar nicht erreichbar ist.

Im Austausch dafür kann ich in angenehm leeren Zügen reisen und habe überraschenderweise wieder mehr Kontakt und Gespräche mit Mitreisenden – natürlich unter Wahrung des notwendigen Abstandes.

Und was verliere ich? Manch einer oder eine würde nun sagen, dass ich 30 Minuten verliere. 

Bei der ersten Strecke ist dies mit Sicherheit nicht der Fall, denn der Weg nach Hause durch den Wald ist derzeit bei diesem Wetter und in dieser Jahreszeit ein Gewinn, ein Geschenk. Und wenn es dann irgendwann wieder regnet oder gar stürmt? Wer weiss, ob dann der Fahrplan immer noch der gleiche ist. Die SBB schreibt auf ihrer Webseite: „Nach der Ankündigung des Bundesrates zur Lockerung der Corona-Massnahmen wird ab dem 27. April auch der Bahnbetrieb schrittweise zurück zum regulären Fahrplan geführt.“ Also geniesse ich es, solange es anders nicht möglich ist, um dann in ferner Zukunft nur noch bei wirklich schlechtem Wetter oder Dunkelheit bis zur wohnungsnahen Station weiter zu fahren, denn wer hindert mich daran, die lieb gewonnene Angewohnheit eines 30-minütigen Spaziergangs auch nach Wiedereinführung des regulären Fahrplans beizubehalten? Das einzige, was mich stoppen könnte, wäre meine ganz persönliche Bequemlichkeit oder dann meine Unachtsamkeit, wenn ich es verpasse, eine Haltestelle vor der Endstation auszusteigen.

Zumindest bei der zweiten Strecke stimmt es auf den ersten Blick, dass ich Zeit verliere. Nun ja, ich brauche eine halbe Stunde länger, aber die Zeit ist ja nicht verloren.

Es ist ein offenes Geheimnis: Zeit können wir gar nicht verlieren.  Wir haben an jedem Tag gleichviel Zeit: 24 Stunden = 1‘440 Minuten = 86‘400 Sekunden. Diese 86‘400 Sekunden sind während unseres gesamten Lebens täglich aufs Neue da. Ein Verlieren ist nicht möglich. 

Das, was passieren kann und auch sehr regelmässig passiert, ist, dass wir Zeit mit etwas verbringen, was wir in dem Moment gar nicht tun sollten oder wollten. Wir lassen uns ablenken, wir tun etwas, wozu wir eigentlich gar keine Lust haben. Dafür können wir niemand anderem die Schuld geben. Es ist unsere ureigene Entscheidung, was wir in jeder einzelnen Sekunde tun. Niemand zwingt uns zu irgendwas. Wir selber entscheiden. Es gehören zu jedem Tag auch Dinge, die wir vielleicht nicht so gerne tun. Diese Dinge kennt jeder und jede von uns. Und doch entscheiden wir uns aus den unterschiedlichsten Gründen sie zu tun.

Zum Beispiel entscheiden wir uns, die Zimmer zu putzen oder den Müll hinauszubringen, weil wir gerne in einer sauberen Wohnung wohnen. Wir gehen ins Büro, in die Werkstatt oder ins Atelier, weil wir uns dazu entschieden haben, eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten. In all diesen Fällen könnten wir uns auch anders entscheiden. Wir müssen einfach nur mit den Konsequenzen der Entscheidungen leben, unseren Lebensstil anpassen oder unsere Lebensträume hinterfragen. Dies ist zugegebenermassen nicht immer ganz einfach, und doch ist es möglich und auch machbar.

Nun, da ich weiss, dass ich eine halbe Stunde Zeit auf einem Bahnhof mitten im Nirgendwo einplanen muss, darf ich mir die Frage stellen: „Wie möchte ich diese Zeit verbringen?“ Denn diese Zeit ist nicht verloren, sondern sie möchte gestaltet werden. Meine Kreativität ist gefragt. Manchmal nutzte ich diese gewonnene halbe Stunde zum Lesen, manchmal nutze ich die Zeit, um Ideen für meinen Blog zu entwickeln und manchmal beobachte ich einfach, wie der Fluss fliesst.

In diesem Zusammenhang noch zwei Dinge:  Zum einen rechne ich selber für mich nicht in Sekunden und wenn ich meinen Tag frei gestalten kann, rechne ich noch nicht einmal in Stunden. Ich folge dem Fluss der Dinge, die ich tun mag und die gerade zu tun sind. Und irgendwie sind am Abend in der Regel all die wirklich wichtigen Dinge erledigt. Da gerade im Aussen so viele Dinge wegfallen, mit welchen ich mich noch vor einiger Zeit beschäftigt habe, geschieht dies noch viel häufiger als sonst. Dies ist ein weiteres wunderbares Geschenk.

Und zum anderen, und auch hier verrate ich kein Geheimnis: Zeit können wir nicht aufsparen. Alles, was auf meinem persönlichen Zeitkonto für heute zur Verfügung steht, kann ich nur heute abbuchen.

Wenn ich mir etwas für unsere neue Normalität wünschen darf, ist es, dass wir uns des Geschenks der Zeit bewusstwerden, und uns deren Vergänglichkeit bewusst vor Augen führen.

Was wäre, wenn wir alle den Zeitpunkt unseres Todes kennen würden? Der belgische Film «Das brandneue Testament» aus dem Jahr 2015 nimmt diese Idee auf. Vor ein paar Tagen habe ich ihn mal wieder angeschaut. Eine spannendes Gedankenexperiment, welches uns auf nachdenklich-komische Weise mit unserer Endlichkeit konfrontiert. Welche der Dinge, die uns noch zu Beginn dieses Jahres als normal erschienen, würden wir weitermachen? Welche sofort beenden?

Die letzten Wochen haben vielen von uns deutlich gemacht, dass ein entschleunigter Lebensstil Raum zum Nachdenken lässt, darüber was wir wirklich brauchen und was der Natur und unserer Umwelt guttut. 

Wir haben die Freiheit, aus den vergangenen Wochen zu lernen. Das Lernen wird für jede und jeden von uns ein unterschiedliches sein. Und das ist auch wichtig und gut. Das einzige, was uns vom Lernen abhalten kann, sind wir selber.

Damit bin ich nun wieder am Anfang des Blogeintrags angekommen. Ich bin zurück zu der Frage: 

Was genau ist denn bitte nun normal?


Normal ist wohl jedes Mal etwas anderes. Es ist das, was am besten zur Situation passt, in welcher ich mich gerade befinde. Die Natur macht es vor. Die äusseren Umstände, insbesondere die aktuelle Wärme lässt sie früher ins Wachstum gehen, als ich es vermutet hätte. Ob dies richtig oder falsch war, wissen wir noch nicht. Erst wenn wir im Jahreskreis weiter sind, werden wir wissen, ob es nochmals kalt geworden ist, ob die zarten Sprossen den Frühling, in dem wir uns jetzt gerade befinden, überstanden haben. 


«Erst wenn wir im Jahreskreis weiter sind, werden wir wissen…», dieser Satz lässt sich auch auf die Veränderungen durch die Coronakrise anwenden: Ob die positiven Auswirkungen auf Natur und Klima und zum Teil auch auf unseren Lebensstil sich weiter festigen lassen, werden wir erst mit einem gewissen Abstand feststellen.

Im Gegensatz zu den Abläufen in der Natur haben wir hier aber die Möglichkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen und eine neue, lebenswerte und verantwortungsvolle Normalität zu erschaffen.