Ich sitze in Quinten auf der Terrasse und beobachte die Natur um mich herum. Heute Nacht hat es endlich geregnet und die Bäume und Sträucher nutzen dies, um in einen Wachstumsschub zu gehen. Die Feigen sind schon fast baumnussgross und an den Reben spriessen bereits die Blütenstände.
„Das ist doch nicht normal!“ denke ich, „Das ist doch viel zu früh!“ und „Hoffentlich kommt nicht noch Frost!“ sind die weiteren Gedanken, die in mein Bewusstsein treten.
Als nächstes nimmt sich die Frage, die ich mir selber und vielen anderen gerade immer wieder stelle, laut und unübersehbar ihren Raum:
Was genau ist denn bitte nun normal?
Wie im letzten Blogbeitrag versprochen, verwebe ich die Fäden von Nichtwissen und Suffizienz in den kommenden Wochen in meine Beiträge. Manchmal werden diese dem Beitrag eine deutliche Färbung geben, manchmal werden sie als leise Musik im Hintergrund einen Klangteppich legen.
Ich habe in der NZZ vom 19. April 2020 ein Interview mit der Virologin Karin Mölling gelesen. Die Überschrift dieses Artikels lautet:
«Woher wissen denn allein Virologen, was richtig ist? Wir wissen vieles nicht. Leider»
Es entspannt mich sehr, das Nichtwissen überall um mich herum zu erleben. Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Nichtwissen und Entspannung – ist dies überhaupt miteinander vereinbar?
Wollen wir nicht eigentlich alles wissen? Wollen wir nicht immer alles verstehen und anschliessend auch noch vollständig kontrollieren? Wer denkt nicht selber oft: „Ich muss dies oder jenes unbedingt verstehen, sonst bin ich nicht handlungsfähig“.
Die letzten Wochen haben mich gelehrt, wie entspannend das Nichtwissen ist, wenn es benannt ist und wenn ich es als eine Art Naturgesetz für mein Leben akzeptiere. Mir wird immer deutlicher, ich kann nur Wahrscheinlichkeiten abschätzen und Hypothesen aufstellen, für all das, was in meinem Leben und in der Welt in Zukunft passieren wird. Ein definitives Wissen habe ich nur über die Dinge, die in meiner Vergangenheit passiert sind. Aber auch hier gilt, dass wir unseren Erinnerungen nicht immer glauben schenken können.
Ein wichtiger Aspekt dessen, was von nun an für mich normal sein wird, ist, dass ich in vielen Bereichen meines Lebens den Faktor Nichtwissen mitberücksichtigen muss, wenn ich die Zusammenhänge wirklich verstehen möchte.
Um beim Eingangsbeispiel des Feigenbaumes und des Weins zu bleiben, auch wenn es mir so vorkommt, in Wirklichheit und Wahrheit habe ich keine Ahnung, ob sie nun zu früh in Blatt und Blüte stehen. Sie haben einfach auf das reagiert, was die äusseren Bedingungen ihnen anbieten. Im Herbst wissen wir mehr.
Auch die Philosophie, welche hinter dem Begriff Suffizienz und hinter der Suffizienzpolitik steht, scheint mir sehr hilfreich zu sein, um eine ganz eigene „neue Normalität“ zu finden und zu erforschen. Die Fragen „Was ist genug?“ und „Was sind meine Grundbedürfnisse?“ sind dazu zwei wunderbare Leitplanken.
Übrigens, der im letzten Blogbeitrag erwähnte Satz auf den Anzeigen der SBB Tafeln hat inzwischen einen neuen Wortlaut. Neu lautet der Text nun: «Der Verkehr wurde auf ein Grundangebot reduziert“. Vorher lautete der Text: „Der Verkehr wird schrittweise auf ein Grundangebot reduziert “. In diesem Bereich kann jede und jeder in der Schweiz gerade prüfen, wie gut er und sie mit dem, was die SBB als Grundbedarf definiert hat, leben kann.
Für mich bedeutet diese aktuelle Anpassung auf meinen zwei wichtigsten Strecken ganz Unterschiedliches. Auf der einen Strecke wird mir ein 30-minütiger Spaziergang durch den Wald ermöglicht, denn die Haltestelle, welche ich bisher benutzt haben, gilt als touristische Erschliessung und wird derzeit nicht bedient.
Für die zweite Strecke muss ich nun unterwegs 30 Minuten Zwischenaufenthalt einkalkulieren, da der bisherige Anschlusszug nun sehr knapp, laut Fahrplan gar nicht erreichbar ist.
Im Austausch dafür kann ich in angenehm leeren Zügen reisen und habe überraschenderweise wieder mehr Kontakt und Gespräche mit Mitreisenden – natürlich unter Wahrung des notwendigen Abstandes.
Und was verliere ich? Manch einer oder eine würde nun sagen, dass ich 30 Minuten verliere.
Bei der ersten Strecke ist dies mit Sicherheit nicht der Fall, denn der Weg nach Hause durch den Wald ist derzeit bei diesem Wetter und in dieser Jahreszeit ein Gewinn, ein Geschenk. Und wenn es dann irgendwann wieder regnet oder gar stürmt? Wer weiss, ob dann der Fahrplan immer noch der gleiche ist. Die SBB schreibt auf ihrer Webseite: „Nach der Ankündigung des Bundesrates zur Lockerung der Corona-Massnahmen wird ab dem 27. April auch der Bahnbetrieb schrittweise zurück zum regulären Fahrplan geführt.“ Also geniesse ich es, solange es anders nicht möglich ist, um dann in ferner Zukunft nur noch bei wirklich schlechtem Wetter oder Dunkelheit bis zur wohnungsnahen Station weiter zu fahren, denn wer hindert mich daran, die lieb gewonnene Angewohnheit eines 30-minütigen Spaziergangs auch nach Wiedereinführung des regulären Fahrplans beizubehalten? Das einzige, was mich stoppen könnte, wäre meine ganz persönliche Bequemlichkeit oder dann meine Unachtsamkeit, wenn ich es verpasse, eine Haltestelle vor der Endstation auszusteigen.
Zumindest bei der zweiten Strecke stimmt es auf den ersten Blick, dass ich Zeit verliere. Nun ja, ich brauche eine halbe Stunde länger, aber die Zeit ist ja nicht verloren.
Es ist ein offenes Geheimnis: Zeit können wir gar nicht verlieren. Wir haben an jedem Tag gleichviel Zeit: 24 Stunden = 1‘440 Minuten = 86‘400 Sekunden. Diese 86‘400 Sekunden sind während unseres gesamten Lebens täglich aufs Neue da. Ein Verlieren ist nicht möglich.
Das, was passieren kann und auch sehr regelmässig passiert, ist, dass wir Zeit mit etwas verbringen, was wir in dem Moment gar nicht tun sollten oder wollten. Wir lassen uns ablenken, wir tun etwas, wozu wir eigentlich gar keine Lust haben. Dafür können wir niemand anderem die Schuld geben. Es ist unsere ureigene Entscheidung, was wir in jeder einzelnen Sekunde tun. Niemand zwingt uns zu irgendwas. Wir selber entscheiden. Es gehören zu jedem Tag auch Dinge, die wir vielleicht nicht so gerne tun. Diese Dinge kennt jeder und jede von uns. Und doch entscheiden wir uns aus den unterschiedlichsten Gründen sie zu tun.
Zum Beispiel entscheiden wir uns, die Zimmer zu putzen oder den Müll hinauszubringen, weil wir gerne in einer sauberen Wohnung wohnen. Wir gehen ins Büro, in die Werkstatt oder ins Atelier, weil wir uns dazu entschieden haben, eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten. In all diesen Fällen könnten wir uns auch anders entscheiden. Wir müssen einfach nur mit den Konsequenzen der Entscheidungen leben, unseren Lebensstil anpassen oder unsere Lebensträume hinterfragen. Dies ist zugegebenermassen nicht immer ganz einfach, und doch ist es möglich und auch machbar.
Nun, da ich weiss, dass ich eine halbe Stunde Zeit auf einem Bahnhof mitten im Nirgendwo einplanen muss, darf ich mir die Frage stellen: „Wie möchte ich diese Zeit verbringen?“ Denn diese Zeit ist nicht verloren, sondern sie möchte gestaltet werden. Meine Kreativität ist gefragt. Manchmal nutzte ich diese gewonnene halbe Stunde zum Lesen, manchmal nutze ich die Zeit, um Ideen für meinen Blog zu entwickeln und manchmal beobachte ich einfach, wie der Fluss fliesst.
In diesem Zusammenhang noch zwei Dinge: Zum einen rechne ich selber für mich nicht in Sekunden und wenn ich meinen Tag frei gestalten kann, rechne ich noch nicht einmal in Stunden. Ich folge dem Fluss der Dinge, die ich tun mag und die gerade zu tun sind. Und irgendwie sind am Abend in der Regel all die wirklich wichtigen Dinge erledigt. Da gerade im Aussen so viele Dinge wegfallen, mit welchen ich mich noch vor einiger Zeit beschäftigt habe, geschieht dies noch viel häufiger als sonst. Dies ist ein weiteres wunderbares Geschenk.
Und zum anderen, und auch hier verrate ich kein Geheimnis: Zeit können wir nicht aufsparen. Alles, was auf meinem persönlichen Zeitkonto für heute zur Verfügung steht, kann ich nur heute abbuchen.
Wenn ich mir etwas für unsere neue Normalität wünschen darf, ist es, dass wir uns des Geschenks der Zeit bewusstwerden, und uns deren Vergänglichkeit bewusst vor Augen führen.
Was wäre, wenn wir alle den Zeitpunkt unseres Todes kennen würden? Der belgische Film «Das brandneue Testament» aus dem Jahr 2015 nimmt diese Idee auf. Vor ein paar Tagen habe ich ihn mal wieder angeschaut. Eine spannendes Gedankenexperiment, welches uns auf nachdenklich-komische Weise mit unserer Endlichkeit konfrontiert. Welche der Dinge, die uns noch zu Beginn dieses Jahres als normal erschienen, würden wir weitermachen? Welche sofort beenden?
Die letzten Wochen haben vielen von uns deutlich gemacht, dass ein entschleunigter Lebensstil Raum zum Nachdenken lässt, darüber was wir wirklich brauchen und was der Natur und unserer Umwelt guttut.
Wir haben die Freiheit, aus den vergangenen Wochen zu lernen. Das Lernen wird für jede und jeden von uns ein unterschiedliches sein. Und das ist auch wichtig und gut. Das einzige, was uns vom Lernen abhalten kann, sind wir selber.
Damit bin ich nun wieder am Anfang des Blogeintrags angekommen. Ich bin zurück zu der Frage:
Was genau ist denn bitte nun normal?
Normal ist wohl jedes Mal etwas anderes. Es ist das, was am besten zur Situation passt, in welcher ich mich gerade befinde. Die Natur macht es vor. Die äusseren Umstände, insbesondere die aktuelle Wärme lässt sie früher ins Wachstum gehen, als ich es vermutet hätte. Ob dies richtig oder falsch war, wissen wir noch nicht. Erst wenn wir im Jahreskreis weiter sind, werden wir wissen, ob es nochmals kalt geworden ist, ob die zarten Sprossen den Frühling, in dem wir uns jetzt gerade befinden, überstanden haben.
«Erst wenn wir im Jahreskreis weiter sind, werden wir wissen…», dieser Satz lässt sich auch auf die Veränderungen durch die Coronakrise anwenden: Ob die positiven Auswirkungen auf Natur und Klima und zum Teil auch auf unseren Lebensstil sich weiter festigen lassen, werden wir erst mit einem gewissen Abstand feststellen.
Im Gegensatz zu den Abläufen in der Natur haben wir hier aber die Möglichkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen und eine neue, lebenswerte und verantwortungsvolle Normalität zu erschaffen.