Quinten

Was genau ist denn bitte nun normal?

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Ich sitze in Quinten auf der Terrasse und beobachte die Natur um mich herum. Heute Nacht hat es endlich geregnet und die Bäume und Sträucher nutzen dies, um in einen Wachstumsschub zu gehen. Die Feigen sind schon fast baumnussgross und an den Reben spriessen bereits die Blütenstände. 

„Das ist doch nicht normal!“ denke ich, „Das ist doch viel zu früh!“ und „Hoffentlich kommt nicht noch Frost!“ sind die weiteren Gedanken, die in mein Bewusstsein treten.

Als nächstes nimmt sich die Frage, die ich mir selber und vielen anderen gerade immer wieder stelle, laut und unübersehbar ihren Raum:

Was genau ist denn bitte nun normal?


Wie im letzten Blogbeitrag versprochen, verwebe ich die Fäden von Nichtwissen und Suffizienz in den kommenden Wochen in meine Beiträge. Manchmal werden diese dem Beitrag eine deutliche Färbung geben, manchmal werden sie als leise Musik im Hintergrund einen Klangteppich legen.

Ich habe in der NZZ vom 19. April 2020 ein Interview mit der Virologin Karin Mölling gelesen. Die Überschrift dieses Artikels lautet:

«Woher wissen denn allein Virologen, was richtig ist? Wir wissen vieles nicht. Leider»

Es entspannt mich sehr, das Nichtwissen überall um mich herum zu erleben. Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Nichtwissen und Entspannung – ist dies überhaupt miteinander vereinbar?

Wollen wir nicht eigentlich alles wissen? Wollen wir nicht immer alles verstehen und anschliessend auch noch vollständig kontrollieren? Wer denkt nicht selber oft: „Ich muss dies oder jenes unbedingt verstehen, sonst bin ich nicht handlungsfähig“. 

Die letzten Wochen haben mich gelehrt, wie entspannend das Nichtwissen ist, wenn es benannt ist und wenn ich es als eine Art Naturgesetz für mein Leben akzeptiere. Mir wird immer deutlicher, ich kann nur Wahrscheinlichkeiten abschätzen und Hypothesen aufstellen, für all das, was in meinem Leben und in der Welt in Zukunft passieren wird. Ein definitives Wissen habe ich nur über die Dinge, die in meiner Vergangenheit passiert sind. Aber auch hier gilt, dass wir unseren Erinnerungen nicht immer glauben schenken können. 

Ein wichtiger Aspekt dessen, was von nun an für mich normal sein wird, ist, dass ich in vielen Bereichen meines Lebens den Faktor Nichtwissen mitberücksichtigen muss, wenn ich die Zusammenhänge wirklich verstehen möchte.

Um beim Eingangsbeispiel des Feigenbaumes und des Weins zu bleiben, auch wenn es mir so vorkommt, in Wirklichheit und Wahrheit habe ich keine Ahnung, ob sie nun zu früh in Blatt und Blüte stehen. Sie haben einfach auf das reagiert, was die äusseren Bedingungen ihnen anbieten. Im Herbst wissen wir mehr.

Auch die Philosophie, welche hinter dem Begriff Suffizienz und hinter der Suffizienzpolitik steht, scheint mir sehr hilfreich zu sein, um eine ganz eigene „neue Normalität“ zu finden und zu erforschen. Die Fragen „Was ist genug?“ und „Was sind meine Grundbedürfnisse?“ sind dazu zwei wunderbare Leitplanken.

Übrigens, der im letzten Blogbeitrag erwähnte Satz auf den Anzeigen der SBB Tafeln hat inzwischen einen neuen Wortlaut. Neu lautet der Text nun: «Der Verkehr wurde auf ein Grundangebot reduziert“. Vorher lautete der Text: „Der Verkehr wird schrittweise auf ein Grundangebot reduziert “. In diesem Bereich kann jede und jeder in der Schweiz gerade prüfen, wie gut er und sie mit dem, was die SBB als Grundbedarf definiert hat, leben kann.

Für mich bedeutet diese aktuelle Anpassung auf meinen zwei wichtigsten Strecken ganz Unterschiedliches. Auf der einen Strecke wird mir ein 30-minütiger Spaziergang durch den Wald ermöglicht, denn die Haltestelle, welche ich bisher benutzt haben, gilt als touristische Erschliessung und wird derzeit nicht bedient.

Für die zweite Strecke muss ich nun unterwegs 30 Minuten Zwischenaufenthalt einkalkulieren, da der bisherige Anschlusszug nun sehr knapp, laut Fahrplan gar nicht erreichbar ist.

Im Austausch dafür kann ich in angenehm leeren Zügen reisen und habe überraschenderweise wieder mehr Kontakt und Gespräche mit Mitreisenden – natürlich unter Wahrung des notwendigen Abstandes.

Und was verliere ich? Manch einer oder eine würde nun sagen, dass ich 30 Minuten verliere. 

Bei der ersten Strecke ist dies mit Sicherheit nicht der Fall, denn der Weg nach Hause durch den Wald ist derzeit bei diesem Wetter und in dieser Jahreszeit ein Gewinn, ein Geschenk. Und wenn es dann irgendwann wieder regnet oder gar stürmt? Wer weiss, ob dann der Fahrplan immer noch der gleiche ist. Die SBB schreibt auf ihrer Webseite: „Nach der Ankündigung des Bundesrates zur Lockerung der Corona-Massnahmen wird ab dem 27. April auch der Bahnbetrieb schrittweise zurück zum regulären Fahrplan geführt.“ Also geniesse ich es, solange es anders nicht möglich ist, um dann in ferner Zukunft nur noch bei wirklich schlechtem Wetter oder Dunkelheit bis zur wohnungsnahen Station weiter zu fahren, denn wer hindert mich daran, die lieb gewonnene Angewohnheit eines 30-minütigen Spaziergangs auch nach Wiedereinführung des regulären Fahrplans beizubehalten? Das einzige, was mich stoppen könnte, wäre meine ganz persönliche Bequemlichkeit oder dann meine Unachtsamkeit, wenn ich es verpasse, eine Haltestelle vor der Endstation auszusteigen.

Zumindest bei der zweiten Strecke stimmt es auf den ersten Blick, dass ich Zeit verliere. Nun ja, ich brauche eine halbe Stunde länger, aber die Zeit ist ja nicht verloren.

Es ist ein offenes Geheimnis: Zeit können wir gar nicht verlieren.  Wir haben an jedem Tag gleichviel Zeit: 24 Stunden = 1‘440 Minuten = 86‘400 Sekunden. Diese 86‘400 Sekunden sind während unseres gesamten Lebens täglich aufs Neue da. Ein Verlieren ist nicht möglich. 

Das, was passieren kann und auch sehr regelmässig passiert, ist, dass wir Zeit mit etwas verbringen, was wir in dem Moment gar nicht tun sollten oder wollten. Wir lassen uns ablenken, wir tun etwas, wozu wir eigentlich gar keine Lust haben. Dafür können wir niemand anderem die Schuld geben. Es ist unsere ureigene Entscheidung, was wir in jeder einzelnen Sekunde tun. Niemand zwingt uns zu irgendwas. Wir selber entscheiden. Es gehören zu jedem Tag auch Dinge, die wir vielleicht nicht so gerne tun. Diese Dinge kennt jeder und jede von uns. Und doch entscheiden wir uns aus den unterschiedlichsten Gründen sie zu tun.

Zum Beispiel entscheiden wir uns, die Zimmer zu putzen oder den Müll hinauszubringen, weil wir gerne in einer sauberen Wohnung wohnen. Wir gehen ins Büro, in die Werkstatt oder ins Atelier, weil wir uns dazu entschieden haben, eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten. In all diesen Fällen könnten wir uns auch anders entscheiden. Wir müssen einfach nur mit den Konsequenzen der Entscheidungen leben, unseren Lebensstil anpassen oder unsere Lebensträume hinterfragen. Dies ist zugegebenermassen nicht immer ganz einfach, und doch ist es möglich und auch machbar.

Nun, da ich weiss, dass ich eine halbe Stunde Zeit auf einem Bahnhof mitten im Nirgendwo einplanen muss, darf ich mir die Frage stellen: „Wie möchte ich diese Zeit verbringen?“ Denn diese Zeit ist nicht verloren, sondern sie möchte gestaltet werden. Meine Kreativität ist gefragt. Manchmal nutzte ich diese gewonnene halbe Stunde zum Lesen, manchmal nutze ich die Zeit, um Ideen für meinen Blog zu entwickeln und manchmal beobachte ich einfach, wie der Fluss fliesst.

In diesem Zusammenhang noch zwei Dinge:  Zum einen rechne ich selber für mich nicht in Sekunden und wenn ich meinen Tag frei gestalten kann, rechne ich noch nicht einmal in Stunden. Ich folge dem Fluss der Dinge, die ich tun mag und die gerade zu tun sind. Und irgendwie sind am Abend in der Regel all die wirklich wichtigen Dinge erledigt. Da gerade im Aussen so viele Dinge wegfallen, mit welchen ich mich noch vor einiger Zeit beschäftigt habe, geschieht dies noch viel häufiger als sonst. Dies ist ein weiteres wunderbares Geschenk.

Und zum anderen, und auch hier verrate ich kein Geheimnis: Zeit können wir nicht aufsparen. Alles, was auf meinem persönlichen Zeitkonto für heute zur Verfügung steht, kann ich nur heute abbuchen.

Wenn ich mir etwas für unsere neue Normalität wünschen darf, ist es, dass wir uns des Geschenks der Zeit bewusstwerden, und uns deren Vergänglichkeit bewusst vor Augen führen.

Was wäre, wenn wir alle den Zeitpunkt unseres Todes kennen würden? Der belgische Film «Das brandneue Testament» aus dem Jahr 2015 nimmt diese Idee auf. Vor ein paar Tagen habe ich ihn mal wieder angeschaut. Eine spannendes Gedankenexperiment, welches uns auf nachdenklich-komische Weise mit unserer Endlichkeit konfrontiert. Welche der Dinge, die uns noch zu Beginn dieses Jahres als normal erschienen, würden wir weitermachen? Welche sofort beenden?

Die letzten Wochen haben vielen von uns deutlich gemacht, dass ein entschleunigter Lebensstil Raum zum Nachdenken lässt, darüber was wir wirklich brauchen und was der Natur und unserer Umwelt guttut. 

Wir haben die Freiheit, aus den vergangenen Wochen zu lernen. Das Lernen wird für jede und jeden von uns ein unterschiedliches sein. Und das ist auch wichtig und gut. Das einzige, was uns vom Lernen abhalten kann, sind wir selber.

Damit bin ich nun wieder am Anfang des Blogeintrags angekommen. Ich bin zurück zu der Frage: 

Was genau ist denn bitte nun normal?


Normal ist wohl jedes Mal etwas anderes. Es ist das, was am besten zur Situation passt, in welcher ich mich gerade befinde. Die Natur macht es vor. Die äusseren Umstände, insbesondere die aktuelle Wärme lässt sie früher ins Wachstum gehen, als ich es vermutet hätte. Ob dies richtig oder falsch war, wissen wir noch nicht. Erst wenn wir im Jahreskreis weiter sind, werden wir wissen, ob es nochmals kalt geworden ist, ob die zarten Sprossen den Frühling, in dem wir uns jetzt gerade befinden, überstanden haben. 


«Erst wenn wir im Jahreskreis weiter sind, werden wir wissen…», dieser Satz lässt sich auch auf die Veränderungen durch die Coronakrise anwenden: Ob die positiven Auswirkungen auf Natur und Klima und zum Teil auch auf unseren Lebensstil sich weiter festigen lassen, werden wir erst mit einem gewissen Abstand feststellen.

Im Gegensatz zu den Abläufen in der Natur haben wir hier aber die Möglichkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen und eine neue, lebenswerte und verantwortungsvolle Normalität zu erschaffen.

Jeder Abschluss ist gleichzeitig ein Beginn

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Am Ostersonntag um 10 Uhr haben am Walensee in allen Dörfern die Kirchenglocken geläutet. Die wenigen Schiffe auf dem See standen überwiegend still und schienen, genau wie ich, einfach für 15 Minuten innezuhalten und zu lauschen. Stillstand. 

Diese 15 Minuten hatten für mich etwas Heiliges. Ein grosses Geschenk und irgendwie habe ich das Gefühl gehabt, es fühlt sich an wie ein Versprechen. Ein Versprechen von mir an mich selber. Und der Abschluss dieser Fastenzeit.

Ostern hat in den unterschiedlichsten Kulturen die unterschiedlichsten Bedeutungen. Die Essenz dieses Festes ist für mich das Wissen um den Neubeginn. Ob nun aus der christlichen Tradition heraus oder aus einer anderen betrachtet, immer geht es um den Neubeginn. Um die Möglichkeit nach einer Phase, die herausfordernd war, zu wachsen. In der christlichen Tradition feiern wir die Auferstehung. Im Jahreskreis ist es die Rückkehr des Frühlings, des Wachstums, der zur Fülle führt.

Der Abschluss dieser Fastenzeit 2020 ist für mich etwas besonderes. Da sich im Leben jedes einzelnen Menschen, den ich kenne, in den letzten 40 Tagen so viel verändert hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass es für mich ein Zurück in die alten, nicht immer förderlichen Verhaltensweisen geben kann. Diese Fastenzeit war so eindrücklich, auf so vielen Ebenen einschneidend, da kann es für mich gar kein Zurück zum Normalzustand geben. Mal abgesehen davon, dass ich weder das Leben, welches wir als Gesellschaft in den letzten Jahren geführt haben, für normal halte noch, dass ich wirklich dorthin zurück möchte. In meinem Umfeld höre ich keine Stimmen, die sagen: „Ich will dahin zurück, woher ich komme“. Vielmehr höre ich von den unterschiedlichsten Seiten: „Nun habe ich wieder Zeit für die Dinge und Menschen, die mir wirklich wichtig sind.“ Und viele bemerken auch, wie gut es tut, innezuhalten und sich auf das Wesentliche zu besinnen. 

Viele sehen sich in ihrem privaten Umfeld mit grossen Herausforderungen konfrontiert, seien es kranke Familienangehörige oder Freunde, sei es die Ungewissheit, wie sich das Leben weiterentwickeln wird. Ich erlebe viel Unterstützung und Kreativität, erlebe, wie Menschen wieder beginnen einander zu fragen, was sie gerade brauchen. Ich beobachte, wie wir zurückgeworfen werden auf unsere unmittelbare Gegenwart, auf das, was direkt um uns herum geschieht. Viele kochen wieder mehr. Sie backen ihr Brot wieder selber. Statt zum Supermarkt gehen sie zum Bio-Bauern. Sie denken und handeln wieder lokal und regional. Viele achten wieder mehr auf die Gesundheit.

Meinrad hat in der Karwoche zu verschiedenen Themen in seinen Beiträgen Stellung genommen. Dies nehme ich zum Anlass diese Themen auch nochmals für mich zu reflektieren, um damit diese intensive, unerwartet verlaufende und doch auf so ganz verschiedenen Ebenen nährende Fastenzeit sowie mein Schreiben im Kontext von „Fasten-Nachhaltig 2020“ abzuschliessen.

Wie schon gesagt, werde ich auf meinem Blog SeelenBilderGeschichten weiterschreiben, jedoch das Thema Geld und Fasten als roten Faden fallen lassen und mich mehr dem Thema, des Nichtwissens, dass ich hier kurz behandelt habe, widmen. Wie kann die Chance zum Umdenken, für den Beginn einer neuen verantwortungsvollen Art zu leben, genützt werden? Was bringt die aktuelle Entwicklung, was bringen die Massnahmen rund um Corona mit sich, diesen Fragen möchte ich in Zukunft vertieft nachgehen. 

Auf den Anzeigetafeln der SBB war in den letzten Tagen immer wieder zu lesen: „Wir passen unser Angebot der Grundversorgung an“. Jedes Mal, wenn ich diesen Satz sehe halte ich inne. Wie oft in den letzten Jahren habe ich mir gewünscht, dass die Suffizienz ihren angemessenen Ort in unserem Leben bekommt. Wir haben längst mehr als genug, um allen ein gutes Leben zu ermöglichen. Nur leider ist all das, was es dazu braucht, an vielen Stellen ungerecht verteilt. Ein paar wenige haben von allem viel zu viel, einige haben genug und viele, viele andere haben viel zu wenig. Eine Welt, in der für uns alle, wirklich alle, die Grundversorgung gesichert ist, das ist etwas, wofür ich schon seit Jahren wirke und webe. Dieses Ziel erscheint nun ganz plötzlich viel realistischer und machbarer als noch vor wenigen Wochen.

Mit Beginn dieser Fastenzeit, begann auch die Phase, in der die Massnahmen rund um Corona unser aller Leben bestimmen. Wir verzichteten auf vieles, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben. Viele Dinge in meinem Leben habe ich weit über meine Grundbedürfnisse hinaus genutzt. Nur in der Fastenzeit, wenn ich bewusst Verzicht übe, bemerke ich, dass ich mir von vielem unachtsam mehr nehme, als ich wirklich brauche. Leider wird mir nur in dieser Phase des  Fastens richtig bewusst, wie sehr auch ich, die sich selber für recht nachhaltig und verantwortungsvoll hält, über meine Verhältnisse lebe, was zu Lasten anderer geht.

Indem ich nun die Brücke zu jenen Beiträgen, welche Meinrad in dieser Woche verfasst hat, schlage, schliesse ich diese Fastenzeit für mich ab.

Palmsonntag – das Leben ist hart

In seinem Beitrag „das Leben ist hart“ spricht Meinrad davon, dass wir das Leiden brauchen, um zu lernen. Die schwierigen Phasen im Leben sind jene, die uns wachsen lassen. Am 5. April, dem Erstellungsdatums dieses Beitrags, begann die Karwoche, welche in der christlichen Tradition dem Leidensweg Christi gewidmet ist, eine Woche, die sich wie keine andere im Kirchenjahr mit dem Leiden beschäftigt. 

Schon mehrfach habe ich in Blogbeiträgen meine Vorliebe für vermeintlich altmodische, zum Teil aus unserem täglichen Wortschatz verschwundene Begriffe gezeigt. Beim Leiden fällt mir immer wieder das Wort Hingabe ein. Im Englischen gibt es den Begriff „Surrender“, der aus meiner Sicht noch passender ist. Ich stelle mirin solchen Momenten vor, wie ich mich der Situation hingebe statt zu leiden, mit ihr fliesse, so wie das Wasser im Bach sich seinen Weg sucht. Ich hadere nicht mit der Situation, ich schaue, was sie mich lehren will. Für mich ist das Leben weder hart noch weich. Ich kann es mir schwer oder einfach machen, durch die Art, in welcher ich mit bestimmten Situationen umgehe. Manchmal ist einfaches Lernen angesagt, manchmal braucht es die Herausforderung. In diesem Sinne ist das Leiden für mich eine wichtige Komponente meiner Weiterentwicklung.

Einstieg in die Karwoche – „Ich bin nicht so wichtig“

„Ich bin nicht so wichtig“ ist Meinrads zweiter Beitrag dieser Karwoche. Schon bevor ich ihn lese, denke ich: welch weise Worte. Wichtig ist aus meiner Sicht, zu wissen, wer ich bin, zu wissen, was meine Bedürfnisse sind. Und diese Bedürfnisse dürfen wichtig genommen werden. Vor allen Dingen sollen wir sie aber in den Kontext der Bedürfnisse aller anderen Wesen und der Natur setzen. Wenn wir alle gleich wichtig sind, entsteht Balance, entsteht die Magie des guten Lebens.

Gründonnerstag – Mein Leben dreht sich nicht um mich

Wir, und damit auch unsere Blogbeiträge, nähern uns Ostern, dem Ende und dem Anfang. Ein leichtes Bedauern schwingt mit in diesem Wissen, dass diese gemeinsame Fastenreise nun bald zu Ende ist. So wie Meinrad die Erzählung der Fusswaschung bewegt, so hat sie auch mir immer wieder Impulse gegeben und mich an meinen Grundauftrag im Leben, von und mit dem ganzen Herzen zu dienen, erinnert. Meiner Meinung nach dreht sich unser Leben ums Dienen. Wieder ein altertümliches Wort, eine altmodische Tugend, ein alter Wert, aber noch immer vor allem eine wunderschöne Geste. Dem Leben zu dienen heisst zu wissen, dass alles miteinander verbunden ist. Niemand von uns ist besser oder schlechter. Keine ist höher gestellt oder von niederem Rang. Wir sind alle gleich. Und drehen uns im besten Fall im Tanz namens Leben rhythmisch miteinander und umeinander.

Karfreitag – ich werde sterben

Vor der Auferstehung steht natürlich noch der Tod, das Sterben.

Mir scheint, wir haben den Tod aus dem Leben verbannt. Im Jahr 2017 habe ich einen guten Freund, ungefähr gleichalt wie ich, durch die Krankheit in den Tod begleiten dürfen. Es fühlt sich immer noch an, als wäre er viel zu früh gestorben. Es bleibt die Frage des «Warum er?» und «Warum jetzt?». Gleichzeitig war es für uns alle, die wir an diesem Prozess Teil hatten, die Möglichkeit, den Tod und das Sterben zu thematisieren, zu benennen, die Möglichkeit, uns unsere eigenen Ängste und unsere Beziehung zum Tod anzuschauen. Im Tod liegt auch Heilung. So war es zumindest für mich. 

Meinrad schreibt in diesem Beitrag über die Folgen, die unsere Todesvergessenheit für die aktuelle Gesellschaft hat. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Mein Gefühl ist, dass wir den Tod aus dem Leben verdrängen wollten. Das geht nicht – er gehört zu uns! Und dies seit unserer Geburt. 

Corona hat den Tod zurück ins Leben gebracht. In das der einzelnen Menschen, die direkt betroffen sind, schmerzhaft und leidvoll. Aber auch für jene, die keine persönlichen Krankheitsfälle in ihrem Umfeld miterleben müssen, ist der Tod wieder präsent. Wir erinnern uns an unsere eigene Sterblichkeit und an die Verletzlichkeit.

Wer ein wenig mehr Zeit mit dem Tod verbringen möchte, dem seien als Einstieg die «Fünf Phasen des Sterbens» von Elisabeth Kübler-Ross ans Herz gelegt. Auch Vergleiche mit der Corona-Krise sind in diesem Zusammenhang erlaubt.

Karsamstag – ich habe nicht die Kontrolle

Ja, ich glaube, eine der wichtigsten Erkenntnisse im Leben ist genau dies: Wir müssen dem Leben vertrauen, denn wir haben keine Kontrolle. Dies wird uns in so vielen Situationen immer wieder aufgezeigt. «Und erstens kommt es anders und zweitens als man denkt» soll schon Wilhelm Busch gesagt haben. Was mir der Karsamstag und diese gesamte Woche vor allen Dingen zeigte, war, wie wichtig Vertrauen in unserem Leben ist. Vertrauen schenken, Vertrauen geschenkt bekommen, und natürlich auch der achtsame Umgang mit diesem Geschenk. Kontrolle aufgeben und Vertrauen schenken scheinen mir zwei der Schlüsselfähigkeiten, die uns die Geschichte von Jesus und auch die Geschichte unseres eigenen Lebens lehren.

Ostern – Leben ist mehr als Überleben

Wir sind am Ende angekommen, also wieder am Anfang. Wie eingangs gesagt, feiern wir mit Ostern das Wissen um den Neubeginn. Der Kreislauf startet erneut. Es ist beruhigend zu wissen, dass wir immer wieder entscheiden können, neu zu beginnen. Es ist beruhigend zu wissen, dass wir uns immer wieder für das Leben entscheiden können. 

Ostern 2020 mit all den unerwarteten Einschränkungen und Impulsen, unser Leben zu hinterfragen, gibt uns die Möglichkeit darüber nachzudenken, was Leben für uns bedeutet. Es gibt uns die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was für uns ganz persönlich der Unterschied zwischen Leben und Überleben sein mag.

Ich wünsche uns allen ein Leben in Verbindung mit allem und allen. Ein Leben in welchem wir die Bedürfnisse der Natur und anderer Menschen genauso wichtig nehmen und respektieren, wie unsere eigenen.

Ein Leben, das mehr ist als nur zu überleben.

Diese Fastenzeit, die ich hiermit beende, hat mir unerwartet viel geschenkt und mich durch eine viel intensivere Zeit des Verzichts geschickt, als ich erwartet habe. 

Ich bin zurück auf meine Grundbedürfnisse geworfen und bemerke, wie gut es mir tut, all den Ballast hinter mir zu lassen. Ich freue mich auf die Phase, die nun beginnt, auch wenn ich jetzt noch keine Ahnung habe, was da alles auf uns zukommt. 

Danke an alle, die mich durch diese Wochen begleitet haben und im Voraus herzlichen Dank an alle, die nun die Zukunft, welche uns erwartet, aus der Gegenwart heraus, achtsam, respektvoll, liebevoll und freudvoll gestalten.

Dieser Artikel ist mein letzter Beitrag im Kontext unserer Fastenwoche 2020